Den Mauerfall am 9. November 1989 habe ich sehr bewusst erlebt, als Wehrpflichtiger in einem Panzerartilleriebataillon der Bundeswehr in Niedersachsen. In den Monaten davor verließen die
Bürger der DDR zu Tausenden ihr Land und kamen als sogenannte "Übersiedler" in die Bundesrepublik.
Für ihre erste Unterbringung und Versorgung wurden auch Unterkünfte in Kasernen bereitgestellt. In unserer Kaserne bekam die 2. Batterie Sonderurlaub und die 3. Batterie, in der ich war,
musste ihre Unterkunft räumen, die direkt am Kasernentor lag, und in den Block der zweiten Batterie ziehen.
Erst waren wir Wehrpflichtigen verärgert, das nicht wir, sondern die Kameraden frei bekamen, dann aber gingen wir mit einer Art Aufbruchstimmung ans Werk, um es für die "Brüdern und
Schwestern von drüben" wohnlich zu machen. Sogar die Waffenkammer wurde aufgelöst, jedes Gewehr in Ölpapier eingeschlagen, in Kisten verpackt und abtransportiert. Wohin, das wurde uns nicht
gesagt.
Sehr symbolträchtig: Die DDR implodiert und wir auch! Wir brauchten keine Waffen mehr.
Dann kam der 9. November, die Mauer fiel. Morgens am 10. November Bataillonsapell, Ansprachen, Fahnen, Deutschlandlied, Uns war allen bewusst, jetzt passiert Geschichte. "Übersiedler"
kamen dann nicht mehr in unsere Kaserne. Aber auch die Waffenkammer wurde nicht wieder bestückt und die 2. Batterie blieb bis zum Ende des Jahres, das auch das Ende unseres Wehrdienstes war,
im Urlaub.
Vor einigen Jahren las ich eine Zeitungsmeldung, das bei Führungen im ehemaligen Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen sich früherer Stasimitarbeiter unter die Besucher mischten und gegen die
meist ehemalige Opfer des SED Regimes regelrecht pöbeln, die die Besucher führen. Das empörte mich sehr. Gleichzeitig wurde mir bewusst, das ich außer wenigen Prominenten, niemanden aus der
ehemaligen DDR Opposition kannte, und diese im Alltag der heutigen Bundesrepublik kaum Beachtung finden, außer bei offiziellen Jubiläumsfeiern. So kam mir die Idee für eine Serie über die
"Gesichter der friedlichen Revolution".
Über die Robert-Havemann-Gesellschaft bekam ich Kontakt zu Erika Drees und besuchte sie in Stendal. Von ihr machte ich das erste Portrait.
Erika Drees beeindruckte mich in ihrer politischen Haltung und mit ihrer idealistischen Lebensweise, die ich zwar nicht teile aber durch ihre Persönlichkeit sehr respektiere. Die
Begegnung mit Erika Drees und ihr Portrait war der Grundstein für diese Arbeit.
In diesem Buch sind 63 Portraits. Sie sind eine Serie. Aber ich mache keine seriellen Portraits. Für jeden Menschen strebe ich ein individuelles Bild an. Ich unterwerfe den einzelnen
Menschen nicht einem vorgedachtem Konzept.
Meine Portraits fotografiere ich klassisch auf Schwarzweißfilm mit Leica M Sucherkameras, eine M3 aus dem Jahre 1956 und eine M2 Baujahr 1963 um ganz genau zu sein.
Aber das tue ich nicht um mein Thema zu historisieren, sondern wegen der speziellen Ästhetik, der Abstraktion und der Konzentration auf das Wesentliche.
Für mich wird in Schwarzweiß der Charakter, der Menschen, aber auch der Situation und der Dinge deutlicher.
Die Bilder entstehen oft und idealerweise aus dem Dialog miteinander und in einem von der Person gewählten Umfeld und mit dem vorhandenen Licht.
Manche der hier Portraitierten nahmen sich dafür Stunden und einige nur Minuten.
Das Bild von Erika Drees ist ein sehr gutes Beispiel für meine Arbeitsweise:
Es ist aus dem Gespräch heraus beim Kaffeetrinken entstanden mit der journalistischen 35mm Brennweite, die das Umfeld noch mit abbildet.
So ist meine Kaffeetasse mit drauf, aber vor allen auch Versatzstücke, die auf Erika Dress Glauben und ihre Friedensarbeit schließen lassen.
Durch diese Arbeitsweise muß ich in der Aufnahmesituation oft improvisieren, auf die Befindlichkeit des Mensch gegenüber, den Ort und das Licht eingehen und auch Störendes im Hintergrund mit
in die Komposition einbeziehen oder den Schatten eines Brillenbügels im Gesicht des Portraitierten hinnehmen - visuelle Wahrhaftigkeit des Augenblicks.
Alle Portraits sind mit den Brennweiten 35mm und 50mm fotografiert. Es gibt zwei Ausnahmen. Beim Portrait von Rainer Müller schien mir das klassische Portrait-Teleobjektiv mit 90mm Brennweite
angebracht um seinen Kopf formatfüllend aufzunehmen. Siegbert Scheffkes Portrait dagegen habe ich im Stil der amerikanischen Streetphotography eines Gary Winogrand mit dem 21mm
Superweitwinkel Objektiv fotografiert. Die Straßenbahnhaltestelle, die Zeit, das gleißende Sonnenlicht, ständig durchs Bild laufenden Menschen auf dem Weg zur Bahn, alles war für ein
"ordentliches" Portrait ungünstig, und der Kirchturm im Hintergrund sollte auch noch mit drauf. Von dort filmte Siegbert Scheffke zusammen mit Aram Radomski die entscheidende
Montagsdemonstration in der "Heldenstadt" Leipzig am 9. Oktober 1989. So entstand ein Portrait gegen alle Regeln und Sehgewohnheiten.
Die 63 Portraits waren nicht nur 63 Termine, sondern 63 Begegnungen. Ich habe viel über unsere jüngere Geschichte, das Leben und den Widerstand in der DDR erfahren und die unterschiedlichsten
Meinungen und Standpunkt gehört und viel gelernt. Mit nicht wenigen Menschen bin ich über den Fototermin hinaus in Kontakt geblieben. Und das ist eine große Bereicherung.
Dirk Vogel, DGPh
Diplom-Photodesigner
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